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Wie sprechen wir über Behinderung und wie formt unser Blick auf Andersartigkeit den gesellschaftlichen Zusammenhalt? Antworten auf diese Fragen finden wir in den Werken einiger Schriftstellerinnen des 20. Jahrhunderts, die aufgrund ihrer eigenen Behinderung selbst Ausgrenzung erfahren haben oder sich in diese Mechanismen hineinversetzen. Die Darstellungen zum disability-Diskurs von Luce d’Eramo (1925–2001) und Clara Sereni (1946–2018) sind prägnante Beispiele und Zeugnisse der pluralistischen Gesellschaftsstrukturen Italiens im 20. Jahrhundert, die in der Literaturgeschichte jedoch lange Zeit verdrängt sind/waren. Blickt man auf den italienischen Kanon oder auch die Lektüreliste zum Bayerischen Staatsexamen, so wird man bis auf zwei bis drei Ausnahmen wenig Diversität finden. Männliche Autoren und ihr patriarchales Weltbild dominieren die in dieser Hinsicht eintönige, kanonisierte literarische Landschaft, die Lehramtsstudierende kennen müssen. Aspekte einer diversen, multiethnischen Gesellschaft werden hier nur am Rande thematisiert, die Frage nach der Darstellung und Wahrnehmung von Behinderung fehlt bisher völlig. Kurzum: Andersartigkeit und besonders Behinderung sind ein Tabu. Doch warum ist der italienische Literaturkanon noch immer von ‚alten, weißen Männern‘ dominiert?
Anhand ausgewählter Textbeispiele von Luce d’Eramo und Clara Sereni stelle ich in meinem Beitrag zur Debatte, wie disability als Analysekategorie, insbesondere auch in der intersektionalen Verschränkung mit gender-Fragen, diskursanalytisch und erzähltheoretisch dafür genutzt werden kann, die den Texten inhärenten gesellschaftsrelevanten Debatten und Machtstrukturen der zweiten Hälfte des Novecento aufzudecken und zu zeigen, welche Funktion sie jeweils für die Darstellung des gesellschaftlichen Zusammenhalts erhalten. Mit diesem interdisziplinären Fokus, der in der Italianistik bisher noch am Anfang steht, können wir einmal mehr den Forschungsblick auf die gesellschaftliche Vielfalt jenseits von Ausgrenzung und Marginalisierung richten und erhellende Einblicke in gesellschaftsprägende Narrative des 20. Jahrhunderts erarbeiten. Dies stellt eine Chance für die italianistische Literatur-/Kulturwissenschaft dar, sich mit ihren Forschungsthemen als Teil einer modernen romanistischen Philologie zeitgemäß weiterzuentwickeln und den Werken Eingang in den Literaturkanon zu gewähren.